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Der Drehstuhl

In dieser neuen Beitragsreihe stellen wir kurz und knapp mittels Bildern, Zeichnungen, Skizzen, Illustrationen, Aufnahmen und Kunstgemälden die Geschichte der Psychiatrie im Spiegel der Kunst dar. Das Augenmerk bleibt unsere immerwährende Bemühung, Vorbehalte und Vorurteile zu verstehen sowie Räume für Verständnis und Toleranz zu schaffen. Dafür laden wir sie ein, mit uns die Psychiatrie im Wandel der Zeit zu durchlaufen, um historisch gewachsene Stigmatisierungsmuster zu beleuchten. Dieses Mal geht es um „Cox's Chair“. Viel Spaß beim Lesen!



Joseph Mason Cox (1763-1818) beschrieb erstmalig vor ca. 200 Jahren in seinem Werk "Practical Observations on Insanity" (Praktische Beobachtungen zum Wahnsinn) [1] eine neuartige Technik für die Behandlung psychisch Erkrankter. Der entworfene Stuhl wurde speziell für die vertikale Drehung des Körpers in der Hoffnung erfunden, eine wirksame Heilung der Patient*innen zu erlangen [2] und auf ordinäre Anstaltsheilmittel wie forcierte Blutung, Spülung und Erbrechen zu verzichten. Im Kontext der Zeit war dieses Konzept für den jungen Cox, der an der Universität Edinburgh Medizin studierte und sich auf die Behandlung von „Geisteskranken“ spezialisierte, eine therapeutische Neuheit. Auch Kollegen äußerten ihre hemmungslose Begeisterung:


"Zum Glück für die Praktiker des medizinischen Berufsstandes wurde der Öffentlichkeit durch die praktische Arbeit von Dr. Cox ein sicheres und wirksames Mittel gegen die unglückliche Veranlagung von "Verrückten", auf die hier Bezug genommen wird, bekannt gemacht. So war er der erste, der den Mut hatte, die Anwendung des KREISELSCHWINGENS zu beantragen, der heute bei der Heilung von "Verrückten" fast aller Art von so großer Bedeutung ist." [3]



Cox sah in dieser Therapie ein moralisch als auch medizinisch vertretbares alternatives Mittel für die Behandlung von "Wahnsinnigen''. Diese Auffassung ist rückblickend in gewisser Weise nachvollziehbar, wenn man bedenkt, dass der Therapie-Standard aus Einkerkerung, In-Ketten-Legen und Entwürdigungen der "Insassen" bestand und diese Bedingungen aus jeglicher Perspektive für eine Genesung außerordentlich unrichtig waren. Damalige Behandler waren der Meinung, dass die Verwendung verschiedener Einrichtungen zum Drehen, Schwingen und Schütteln der Patient*innen den Druck auf das Gehirn erhöhen und dadurch Ruhe und Schlaf herbeiführen würden [4].


"Es könnte Schlaf produziert werden, und wahrscheinlich könnte die Gewalttätigkeit der Handlungen des Herzens und der Arterien durch entzündliches Fieber vermindert werden" [5].


... "die aufgeregesten und widerspenstigsten Patienten konnten gezähmt" und eine "absolute [ärztliche] Authorität" über sie wiederhergestellt werden.

Nicht alle waren mit der Methodik einverstanden. John Haslam zum Beispiel, der als Apotheker in einer Anstalt in London ("Bedlam") tätig war, verabscheute den Vorgang und beschrieb diesen wiederholt als „barbarisch, gar lächerlich“ [5]. Unter den Anstaltsärzten in ganz Europa fand der Drehstuhl viele Befürworter, Anwender und Weiterentwickler. Mit dem Prototyp, den Cox geschaffen hatte, sprossen europaweit neue "Modelle" hervor. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden Patient*innen in mechanisch ausgeklügelten Liegen, Stühlen, Matten, Schaukeln, Betten und Hängematten gedreht, geschwungen und geschüttelt, um sie nicht nur zu sedieren, sondern später auch zu stimulieren. Berichten zufolge konnten die „aufgeregtesten und widerspenstigsten Patienten gezähmt" und eine "absolute [ärztliche] Autorität" über sie wiederhergestellt werden [4].



In der zweiten Hälfte des 19. Jahunderts wuchs die Skepsis gegenüber rotierenden, oszillierenden und vibrierenden Vorrichtungen. Die ersten Todesfälle wurden berichtet, die Wirksamkeit immer mehr in Frage gestellt. Mit dem Aufstieg der moralischen Therapie (moral treament) rückten quälende und folternde, vor allem unwirksame und nicht prüfbare Methoden immer mehr in den Hintergrund. Erst später griffen Wissenschaftler*innen das Konzept des "Drehens" für die Erforschung des Schwindels (Vertigo) wieder auf - dies mündete schließlich in die Entwicklung des Bárány Stuhls zur klinischen Beurteilung der Vestibularfunktion (des Gleichgewichtsorgans). In der Raumfahrt zum Beispiel wird der „Drehstuhl“ auch heutzutage verwendet, um räumliche Desorientierung zu bewirken damit Pilot*innen erlernen können, sich auf Fluginstrumente zu verlassen anstatt ihrem vestibulären System zu trauen.


Ein weiteres Übrigbleibsel des „Drehstuhls“, dieses Mal in ein reines Vergnügen novelliert.


In dieser Beitragsreihe werden wir immer wieder entdecken, dass damalige neuartige Methoden oftmals mit der Intention der Genesung der Patient*innen entwickelt wurden. Das ärztliche Ethos des Heilens und Nicht- Schadens war damals genauso vordergründig wie heute, mit dem Unterschied, dass die wissenschaftlichen, soziopolitischen und philosophischen Auffassungen ein anderes Menschenbild und Krankheitsverständnis impliziert haben. Erst mit der Entwicklung methodischer Vorgehensweisen konnten wirksame von unwirksamen Anwendungen kritisch geprüft werden. Es fällt leicht sich vorzustellen, dass Mediziner*innen in 100 Jahren auf unsere Epoche zurückblicken und sich die Hände über den Kopf zusammenschlagen. Diese Betrachtungsweise soll wiederum keine altertümliche (Folter-)Methode rechtfertigen oder die unwürdige Behandlung psychisch Erkrankter ermutigen. Ganz im Gegenteil soll das Verständnis für frühere Behandlungsmethoden, die aller Wahrscheinlichkeit nach auch niedere Eigenschaften in Behandler*innen hervorgerufen haben, den Diskurs in der heutigen Psychiatrielandschaft fördern. Welche Methoden werden heute angewandt, die als unwürdig und unmenschlich erachtet werden können? Beeinflussen diese Methoden das teilweise noch negative gesellschaftliche Bild der Psychiatrie-Erfahrenen und Tätigen? Welche Fehler begehen wir heute, die in Zukunft die Stigmatisierung der Psychiatrie antreiben könnten? Oder anders gefragt, was soll unternommen werden, damit die Psychiatrie sich von diesem Nimbus befreien kann?


Quellen

  1. Joseph Guislain: Traité sur l'aliénation mentale et sur les hospices des aliénés. Band 1, Pl. 3. (1828)

  2. Cox, J.M. (1804). Practical observations on insanity. London: Baldwin and Murray.

  3. Hallaran W S, 1810 An Enquiry into the Causes Producing the Extraordinary Addition to the Number of Insane, Together with Extended Observations on the Cure of Insanity: with Hints as to the Better Management of Public Asylums (Cork: Edwards & Savage)

  4. Mary de Young. Encyclopedia of Asylum Therapeutics, 1750-1950s . McFarland & Company, Inc., Publishers. Kindle Edition.

  5. Darwin, E. (1801). Zoonomia, or, the laws of organic life, pp. 436–437. Vol. 4. 3rd ed. London: Johnson.

  6. Haslam, J. (1809). Observations on madness and melancholy, p. 340. London: G. Hayden.




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