top of page

Der Beginn der Entstigmatisierung...

Heute nehmen wir Sie mit auf eine Reise in die Vergangenheit der Psychiatrie…in eine Zeit der Befreiung und Neuordnung. Wir zeichnen nämlich das Portrait des französischen Psychiaters, Philippe Pinel. Er setzte eine ärztliche Behandlung ohne Zwang durch, die später als "no restraint" bekannt wurde. Ein 10-minütiger Film - Oscarpreisträger in der Kategorie Kurzfilm im Jahre 1940 - visualisiert sein Leben.  


© Corlieu (A.), Centenaire de la Faculté de Médecine de Paris (1794-1894), Paris: F. Alcan, 1894

Durch die schmalen vergitterten Fenster glitzerte die Sonne und man sah die Stoffpartikel der weißen Zwangsjacken, die auf dem Boden lagen, in der Luft hängen. Pinel ging hastig den Gang entlang. Ein schmaler Korridor entfaltete sich vor seinen entschiedenen Schritten. Hinter ihm eine tuschelnde und gespannte Menge, die hauptsächlich aus dem Hauspersonal bestand. Alle erwarteten das Unfassbare. Wendig bewegte sich Pinel Richtung Zelle drei. Sanft berührte eine Hand seine linke Schulter. Es war Pussin, der Oberwärter. “Ich stehe hinter ihnen, Maître”, drückte er spärlich durch seinen fast verschlossenen Mund hervor. Seine Berührung fühlte sich feucht und warm an, die Angst und Sorge um den Maître quellte aus den Poren seiner Finger in den frischgewaschenen Frack Pinels. Er, der ein Jahrzehnt Oberwärter war, kannte die Gefahren, die Pinel bedrohten und er wusste, dass diese nicht von den Irrsinnigen ausgingen, denn er hatte selber bereits welche befreit.

Pussin hatte mit seinem Übergewicht Mühe, den schnellen und kräftigen Schritten Pinels zu folgen. Der Meister hingegen flog über den grau-braunen Steinboden. Der Gestank von Kot und Urin, Schweiß und Blut, der über die Jahre seine Lungen ausbrannte und zu fürchterlichen Hustenanfällen führte, blieb wirkungslos. Mit jedem Atemzug wuchsen sein Mut und seine Entschlossenheit. Zwei Jahre hatte er diesen Augenblick vorbereitet. Das Reiben der eisernen Ketten gegen Haut und Boden, die heftigen Tritte gegen die rostigen Eisengitter, die Schreie, das lautlose Gestöhne sowie die nächtlichen Bedrohungen und Demütigungen, all das würde ein Ende nehmen. Er dachte an seine erste Begegnung mit Lesoufflet im Hotel Dieu, wo dieser elende Mensch nach 12 Wochen abwechselnder Wasserbehandlung, Aderlässe und Morphiuminjektionen schließlich als unheilbar und extrem gewalttätig in die Salpêtrière verlegt wurde. Er dachte an die Wärter, die nächtens von der Rachsucht und Wut der gefangenen Kranken hinterrücks getötet wurden und er dachte auch an die Folterungen der Irrsinnigen durch eben diese Wärter. Schließlich erinnerte er sich an die langen Briefwechsel mit Chiarugi, der bereits 5 Jahre zuvor die Kranken in Florenz von ihren Ketten befreien ließ, und ihm  in seinen Stunden tiefer Verzweiflung im Kampf gegen das Zentralbüro, das Kollegium und ganz Paris immer wieder Hoffnung weihte. Nun, wenige Meter vor der Zelltür von Lesoufflet, verwandelte sich dieser mittelgroße, schlanke und drahtige Südfranzose zu einem Koloss.

Die Rasselgeräusche des Schlüsselbundes schleuderten Pinel aus seinen Gedanken heraus. Erst jetzt nahm er die durchdringende Stille war. Das Schweigen lastete auf Pussin, der schwer atmend und verzweifelt versuchte, mit seinen schwitzenden Fingern den Schlüssel der Zelle drei zu umfassen. Endlich drehte er das Schloss auf und gab der Tür einen kurzen Stoß. Mit der Ausdehnung des Türspaltes fiel das Licht durch die schmalen vergitterten Fenster im Korridor in die Zelle ein. Das Gesicht von Lesoufflet wurde nach und nach erkennbar. Seine Augen waren trostlos, traurig und abwesend. Lesoufflet war spärlich bekleidet. Ein Fetzen Stoff bedeckte seinen Oberkörper, seine Hose zerfranst und zur Leiste gekürzt nach einem Strangulationsversuch. Pinel beugte sich zu ihm runter, setzte seine zarten Finger auf seine Hände, die mit seinen Füßen verkettet waren und sprach ihn leise an: „Lesoufflet“. Dieser blickte den Maître an, geblendete durch den Lichtreiz drehte er sich aber in den Schatten zurück. Wieder sprach ihn Pinel mit Namen leise an. Nun erkannte der Gefangene Stimme und Gesicht. Er schwenkte seinen Kopf wieder in das Licht und sah mit verwandelten Augen zu Pinel hoch. „Ist es soweit, Maître Pinel?“ Demütig nickte Pinel. Beide Männer sahen sich lange an und konnten sich nicht entsinnen, wann sie das letzte Mal Tränen vergossen hatten.


Gemälde: Pinel befreit die Irrsinnigen von Tony Robert-Fleury (1895) - Public Domain

Werdegang

Philippe Pinel war ein Pionier seiner Zeit. Die Bedeutung seiner Arbeit wird am verständlichsten, wenn man den historischen Kontext mit einbezieht, denn  ca. um 1800 war der Höhepunkt seelisch-geistlicher Produktivität erreicht worden. Die Aufklärung war in ihrer Hochblüte und die wissenschaftliche Emanzipation gegenüber kirchlichen Dogmen schritt voran. Wir befinden uns damit in einer Zeit des schöpferischen Schaffens in all ihren Formen: Künstlerisch (Mozart und Beethoven), literarisch (Goethe und Schiller) und philosophisch (Hegel und Kant). So entstand eine neue Ausrichtung auch in der Psychiatrie, die sich langsam zu einer klinisch-empirisch-anthropologischen Medizin und Psychologie entwickelte. Es bestand eine große Diskrepanz zwischen theoretischem Verständnis von Geist und Seele sowie Menschenwürde und der praktischen Umsetzung dieser Erkenntnis in der Pflege der Patienten. Die Lage psychiatrisch Erkrankter war in vielen Ländern katastrophal und reformbedürftig. Reformer waren in vielen verschiedenen Ländern tätig gewesen (Joly in England, Reil in Deutschland, Chiarugi in Italien). Die Wende begann in Frankreich.

Pinel wurde 1745 in Südfrankreich in eine Ärztefamilie gut bürgerlichen Standes hineingeboren. Er wurde stark durch die Erziehungsmethoden seiner Familie, aber auch durch christliche Doktrinen beeinflusst. Früh entwickelte er ein reges Interesse für die Wissenschaften, studierte Mathematik in Toulouse, später Medizin in Montpellier und promovierte in beiden Fächern. Erst mit 48 Jahren begann er seine aktiven Jahre als Mediziner. Davor verbrachte er seine Zeit mit dem weiterführenden Studium diverser Fächer: Mathematik, Philosophie, Medizin und allgemeine Wissenschaften. Fünfzehn Jahre lang frequentierte er das Collège de France, besuchte Vorlesungen in der Académie des Sciences und saß Vorträgen im Jardin du Roi bei. In dieser Zeit machte er seine ersten Beobachtungen von vermögenden „Irren“, die in kleinen Häusern untergebracht wurden. Er sprach fließend Englisch und Italienisch und erwarb seinen Unterhalt als Hauslehrer sowie als Übersetzer medizinischer Beiträge und Artikel in Journalen. In all dieser Zeit vervollständigte er stetig sein Wissen.


Der Pionier und Reformer

Er übernahm die Leitung des Armen-, Kranken- und Zuchthauses Bicêtre und zwei Jahre später auch die des Hôpital de la Salpêtrière. Aber bereits vor seiner Berufung, hatte Pinel ein humanistisches, philosophisches und psychosomatisches Konzept des Menschen hinsichtlich Gesundheit und Krankheit entwickelt. Das Herzstück seiner Philosophie war die „moralische Behandlung“ und die Einschränkung von Zwangsmaßnahmen. Er publizierte drei fundamentale Schriftstücke, die seine Ideologie und sein klinisches wie therapeutisches Vorgehen beschreiben und die Basis der modernen Psychiatrie bilden. Diese Schriften gelten daher als Grundlage für die Entwicklung der Psychiatrie zu einer eigenständigen medizinisch-wissenschaftliche Disziplin. In seinem Hauptwerk („Philosophisch-medizinische Abhandlung über Geistesverwirrungen oder Manie“, S.93) schrieb Pinel:

„Man kann zweifelsohne in den Irrenhäusern, so wie in despotischen Staaten, eine scheinbare Ordnung durch eine unwillkürliche und unbegrenzte Einsperrung, durch Ketten, und durch barbarische Behandlung unterhalten; aber ist das nicht die Ruhe der Gräber und des Todes? Eine mit Weisheit berechnete Freiheit zeichnet die Aufrechterhaltung einer solchen Ordnung aus, die mit den strengen Grundsätzen der Menschenliebe übereinstimmt, und die, indem sie einige Milde über das unglückliche Dasein der Wahnsinnigen verbreitet, oft die Symptome des Wahnsinns ganz verscheucht, auf jeden Fall aber ihre Heftigkeit vermindert.“

Pinel bezeichnete die Erkrankten nicht mehr als „Wahnsinnige“, die „keine Vernunft hatten“ und somit keine Rechte und mit Bettlern, Vagabunden und Verbrechern eingekerkert werden mussten - sondern nur noch als „Verrückte“, die einen Widerspruch innerhalb der Vernunft vorzeigten. Somit verblieben sie Bürger mit einem natürlichen Recht auf Hilfe. Dies war die ethische Kernaussage seiner Schriften.

Pinels Leitmotiv

Das Leitmotiv seiner humanistischen Behandlung war die Mäßigung. Er lehnte die Idee der dämonischen Besessenheit, die damals noch gängig war, dezidiert ab und verstand das Leiden als Ausdruck psychosozialer Belastungen. Die Ursachen von „Irrsinn“ sah Pinel neben Vererbung und physischen Faktoren, in der verfehlten Erziehung und im Übermaß (in der Lebensweise sowie der Leidenschaften). Da sich Pinel der deskriptiven Methode verpflichtet sah, steuerte er einen phänomenologischen Ansatz an, und etablierte eine strukturierte Verschriftlichung des Krankheitsverlaufs und führte dabei die regelhafte Erhebung einer Anamnese ein - die professionelle Erfragung von relevanten biographischen, sozialen, somatischen und psychiatrischen Informationen. Seine Behandlung basierte auf professionell geschultem Personal mit einem natürlichen Einfühlvermögen und einer wohlwollenden Haltung gegenüber Patienten. Er rückte die Arzt-Patienten Beziehung in den Vordergrund und hob die Wichtigkeit von interpersonellen Maßnahmen hervor. Pinel führte zudem statistische Methoden zur Abschätzung von Heilungsaussichten der verschiedenen Krankheiten ein. Aus heutiger Sicht sind diese Methoden Standard, damals waren sie Neuland.

In Frankreich kam die Wende zum Besseren im Umgang mit psychiatrischen Patienten. Eine Wende, die sich europaweit ausbreitete. Der radikale Wandel in der Diagnostik, aber vor allem im Verständnis von Krankheit und der Haltung des Personals gegenüber den Patienten resultierte in eine humanistische Behandlung mit beispielhaftem sozialem Engagement. Mit Pinel drang Licht in die jahrhundertelange Dunkelheit ein. Ein erster Schritt war getan.



Quellen

  1. Bernhard Pauleikhoff (1983): Das Menschenbild im Wandel der Zeit. Ideengeschichte der Psychiatric und der Klinischen Psychologie. Hürtgenwald: Pressler 1983. Bd. 2: XII, S. 10-16.

  2. Dora B. Weiner: Le concept de l'homme sain dans l'œuvre de Pinel.

  3. Biographisches Archiv der Psychiatrie - Biapsys 

  4. Pinel, P. (1801): Traité médico-philosophique sur l’aliénation mentale ou La manie. Paris: Caille et Ravier [Dtsch.: Philosophisch-medizinische Abhandlung über Geistesverwirrungen oder Manie. Übersetzt von M. Wagner. Wien: Carl Schaumburg 1801.


bottom of page