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„Kindereuthanasie“ in Hamburg. In Erinnerung an die Opfer.


Die langen Schatten der deutschen Nazivergangenheit ragen bis heute in manche Bereiche deutscher Strukturen. Eine Aufarbeitung der Beteiligung heutiger Institutionen z.B. Kliniken und Forschungseinrichtungen ist unerlässlich, um ein Gedenken zu bewahren und Verantwortung im Heute zu übernehmen. Dieser Beitrag möchte dazu beitragen. Wir schauen auf das Menschenbild des Naziregimes in Deutschland, welches noch heute einen Einfluss auf den gesellschaftlichen Blick auf erkrankte Menschen hat und zu vielfacher Stigmatisierung dieser führt.


Bild: Gedenktafel auf dem Ehrenfeld der Geschwister-Scholl-Stiftung des Ohlsdorfer Friedhofs

Das wesentliche Merkmal nationalsozialistischer Gesundheitspolitik war eine „positive“ sowie eine „negative“ Bevölkerungspolitik: Die Menschen wurden in „Leistungsstarke“ und „Erbgesunde“ sowie in „Minderwertige“ und „Erbkranke“ eingeteilt; die einen sollten gestärkt und gefördert werden, die anderen „ausgemerzt“. In der Praxis bedeutete das Zwangssterilisationen sowie „Euthanasie“. Etwa 400.000 Menschen wurden zwischen 1934 und 1945 zwangssterilisiert. 300.000 als behindert, psychisch krank, „minderwertig“ oder „gefährlich“ eingestufte Erwachsene, Jugendliche und Kinder wurden ermordet. „Euthanasie“-Verbrechen wurden in der Zeit des Nationalsozialismus im gesamten Deutschen Reich und in vielen besetzten Gebieten begangen. Ein großer Teil der Ärzteschaft hat diese Politik der „biologischen Ausmerze“ ideologisch unterstützt, viele waren daran aktiv beteiligt. Beteiligt waren ebenso Mitarbeiter:innen verschiedener Behörden und Ämter, der Hamburger Universität, der Krankenhäuser, Pflegeheime, Fürsorgeeinrichtungen und der Dienststellen der NSDAP.


Etwa 400.000 Menschen wurden zwischen 1934 und 1945 zwangssterilisiert

Es wurden zum einen erwachsene Menschen ermordet, die in Heil- und Pflegeeinrichtungen untergebracht waren, chronisch krank waren, mehr als fünf Jahre in einer Anstalt lebten, als pflegeaufwändig galten und keine oder nur geringe Arbeit leisten konnten. Ermordet wurden ebenso „lebensunwerte“, „mißgestaltete und idiotische“ Säuglinge, Kinder und Jugendliche. Diese sog. „Kindereuthanasie“ wurde seit 1938 durch das Amt IIb der „Kanzlei des Führers“ sowie das Reichsinnenministerium vorbereitet. Für die Durchführung der „Kindereuthanasie“ wurde der „Reichsausschuß zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden“ gegründet, der als eine Tarnorganisation dazu beitrug, auch die Ermordung der Kinder und Jugendlichen geheim zu halten. Ab 1939 organisierte dieser „Reichsausschuß“ ein Melde- und Entscheidungsverfahren, suchte ärztliche Gutachter:innen und ließ „Kinderfachabteilungen“ in ausgewählten Kliniken einrichten, deren medizinisches Personal bereit war, die Tötungen der Kinder vorzunehmen. Im August 1939 verpflichtete das Reichsinnenministerium Hebammen, Fürsorgerinnen sowie Ärzt:innen dazu, Neugeborene und Kleinkinder mit „schweren angeborenen Leiden“ per Meldebogen zu erfassen und zu melden. Die Begutachtung übernahmen zwei Kinderärzte (Werner Catel (1894–1981) aus Leipzig und Ernst Wentzler (1891–1973) aus Berlin) sowie ein Psychiater (Hans Heinze (1895–1983) aus Brandenburg-Görden). Ohne die Kinder gesehen zu haben, entschieden sie über das weitere Verfahren, indem sie ein „+“ oder „–“ notierten. Bei „positiver“ Begutachtung wurden die Kinder in eine der möglicherweise 40 „Kinderfachabteilungen“ überwiesen, wo über die Tötung entschieden wurde. Den Eltern wurde ein letzter „Behandlungsversuch“ vorgeschlagen, um sie zu beruhigen. Die Ärzt:innen der Kinderfachabteilungen gaben jedoch eine Überdosis von Medikamenten wie Luminal, Morphin u.a. Oft endete auch eine systematische Unterernährung tödlich. Bis Kriegsende wurden auf diese Weise mehr als 5.000 Kinder ermordet.


Bild: Wilhelm Bayer Ende der 60er aus "Kindermord im Krankenhaus" von Andreas Babel

In Hamburg gab es zwei solcher „Kinderfachabteilungen“: Der Kinderarzt Wilhelm Bayer (1900–1973) richtete 1939/1940 im Kinder-krankenhaus Rothenburgsort eine solche Abteilung ein. Sobald die Genehmigung des „Reichsausschusses“ zur Tötung kam, beauftragte Bayer eine seiner Assistenzärzt:innen, dem betreffenden Kind eine Überdosis Schlafmittel zu spritzen. Die zweite Hamburger „Kinderfachabteilung“ war in der Heil- und Pflegeanstalt Langenhorn, unter der Leitung des Psychiaters Friedrich Knigge (1900–1947). Auch hier wurden Säuglinge und Kleinkinder aufgenommen und auf der Grundlage der Gutachten des „Reichsausschusses“ ermordet. In der „Kinderfach-abteilung“ Rothenburgsort sind mindestens 126 Kinder ermordet worden, in der „Kinderfachabteilung“ Langenhorn mindestens 20.


Nach der Tötung wurden viele Kinderleichen seziert, um an deren Hirnen zu forschen. In Hamburg wurde eine unbekannte Zahl dieser ermordeten Kinder für die neuropathologische Forschung im Universitätskrankenhaus Hamburg-Eppendorf benutzt. Vor gut zehn Jahren konnten in dieser wissenschaftlichen Sammlung Hirn-Präparate von fünf Kindern identifiziert werden, die von „Euthanasie“-Ärzten ermordet worden waren. Im September 2012 wurden in einer feierlichen Gedenkstunde diese identifizierten Hirn-Präparate auf dem Ehrenfeld der Geschwister-Scholl-Stiftung des Ohlsdorfer Friedhofs beigesetzt:


Gerda Behrmann: geboren am 7. Januar 1939 in Hamburg-Eidelstedt; aufgenommen am 21. Mai 1941 in die Heil- und Pflegeanstalt Langenhorn; gestorben am 8. August 1941 in der Heil- und Pflegeanstalt Langenhorn; am 23. Juni 1941 an den „Reichsausschuß“ gemeldet durch Knigge mit der Diagnose „Mongoloide Idiotie“.


Werner Hammerich: geboren am 10. April 1940 in Hamburg-Wandsbek; aufgenommen am 10. März 1941 in der Heil- und Pflegeanstalt Langenhorn; gestorben am 27. März 1941 in der Heil- und Pflegeanstalt Langenhorn; offensichtlich an den „Reichsausschuß“ gemeldet; Diagnose: „Mongoloide Idiotie“.


Marianne Harms: geboren am 30. April 1940 in Bardowiek; gestorben am 19. November 1941 in der Heil- und Pflegeanstalt Langenhorn; Todesursache: „Hydrocephalus, Beiderseitige Amaurose, Bronchopneumonie“.


Dieter Kullak: geboren am 30. August 1938 in Hamburg-Wandsbek; aufgenommen am 13. Oktober 1941 in der Heil- und Pflegeanstalt Langenhorn; gestorben am 8. März 1942 in der Heil- und Pflegeanstalt Langenhorn; offensichtlich an den „Reichsausschuß“ gemeldet; Diagnose: „Littlesche Krankheit (Tetraplegia spastica infantilis), Idiotie“.


Agnes Erna Petersen: geboren am 4. November 1938 in Hamburg; gestorben am 10. November 1941 im Kinderkrankenhaus Rothenburgsort; offenbar an den „Reichsausschuß“ gemeldet; Diagnose: „Demenzprozess nach Meningitis epidemica“; Todesursache: „Pneumonie, Kreislaufschwäche“.


Text von PD Dr. phil. Rebecca Schwoch (r.schwoch@uke.de)



Zur Person:

PD Dr. phil. Schwoch studierte Geschichte, Politologie und Hispanistik an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster und der Freien Universität Berlin. 1999 wurde sie mit der Arbeit Ärztliche Standespolitik im Nationalsozialismus: Julius Hadrich und Karl Haedenkamp als Beispiele an der FU Berlin promoviert. Sie ist habilitiert für den Querschnittsbereich Geschichte, Ethik und Theorie der Medizin und lehrt an der Medizinischen Fakultät der Universität Hamburg (Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf). Seit 2003 ist sie Wissenschaftliche Mitarbeiterin des Instituts für Geschichte und Ethik der Medizin am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. Sie ist eine von zwei Stellvertretenden Institutsleitern (aus Wikipedia).


Literatur:

  • Burlon M (2009), Die „Euthanasie“ an Kindern während des Nationalsozialismus in den zwei Hamburger Kinderfachabteilungen, med. Diss. Universität Hamburg.

  • Jenner H/Wunder M (2017), Hamburger Gedenkbuch Euthanasie. Die Toten 1939–1945, Hamburg.

  • KZ-Gedenkstätte Neuengamme (Hg.), Red. H Diercks (2016), „Euthanasie“-Verbrechen. Forschungen zur nationalsozialistischen Gesundheits- und Sozialpolitik. Beiträge zur Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgung in Norddeutschland, Heft 17, Bremen.

  • Thevs H (2011), Stolpersteine in Hamburg-Rothenburgsort. Biographische Spurensuche, Hamburg.


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