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Prof. Dr. Anne Karow im Interview


Erklommene Stufen, überwundene Hürden und ein von Neugier und Mut geprägter Werdegang erwarten sie in diesem Beitrag. Wir tauchen ein in die Welt von Prof. Dr. med. Anne Karow. Als Forscherin und Ärztin hat sie sich in die immer noch männerdominierte Leitungsriege gearbeitet und damit auch für weitere Kolleginnen den Weg dorthin bereitet. Mit Zahlen und Fakten zum Geschlechterverhältnis im Arztberuf runden wir diesen Beitrag ab.


© Jozef Micic / 123RF.com

In einem angenehmen Büro im 4. Stock des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf (UKE) nehmen wir Platz. Wir sitzen einem roten abstrakten Gemälde gegenüber. Einige Spielsachen befinden sich auf einem Abstelltisch. Anne Karow, Professorin, Oberärztin, Mutter, Tochter, Schwester und Leiterin des Forschungsprojekts „RECOVER“, der Früherkennungsambulanz und des Adoleszenzbereichs, sitzt uns gegenüber und bietet uns etwas zu trinken an. Anne offeriert uns ein vertrauliches „Du“, bevor sie mit dem Stuhl zuerst nach rechts, dann wieder einige Zentimeter nach links rückt. Spontan drängt sich uns die Frage auf, ob Anne vielleicht sogar etwas nervös sein könnte. „Aufgeregt nicht“, antwortet sie uns, „ich will nicht sagen unangenehm berührt, aber ich fühle mich ein bisschen unwohl.“ Sie erklärt, dass sie viele Vorträge in der Funktion als Professorin und nicht als Privatmensch hält, was ihr eine gewisse Distanz erlaubt. „Zum Beispiel habe ich letztens auf dem Geburtstag meiner Mutter eine Rede gehalten und empfand es viel aufregender als jeden beruflichen Vortrag“. Anne gehört zu den erfolgreichsten Forscherinnen in Hamburg und ihre Verbundenheit mit dem UKE reicht weit zurück. Sie studierte in Hamburg Medizin, nachdem sie der Kunst den Rücken zugekehrt hatte: „Bei der freien Kunst, da muss man sehr verrückt und in der Lage sein, sich mit Haut und Haaren einzulassen. Von der Hand in den Mund zu leben, das war ich nicht.“ Malen würde sie heute noch und zeigt auf das uns gegenüber befestigte Gemälde an der Wand. Im Verlauf dieses einstündigen Gesprächs durften wir Anne besser kennenlernen, ihren Werdegang durchlaufen, ihre Hindernisse verstehen und die Schwierigkeiten oder gar Vorteile erfahren, als Frau in eine leitende Position aufzusteigen. Wir begannen mit der folgenden klassischsten aller Fragen, die man PsychiaterInnen stellen kann:

Warum hast du dich entschieden, Psychiaterin zu werden?

Es war eine Entscheidung für die jüngeren Patienten. Ich fand Psychiatrie schon im Studium spannend. Mir haben in den Psychiatriekursen und bei allen psychosozialen Fächern die DozentInnen auch immer sehr gut gefallen. Das waren die nettesten Leute, die waren einem zugewandt und hatten den Menschen als Ganzes im Blick. Dann habe ich mein Praktisches Jahr [PJ] in der Psychiatrie der hiesigen Tagesklinik gemacht und es spannend gefunden, bei jungen Psychose-Erfahrenen die Therapie mitzugestalten. Auch die Forschungsmöglichkeiten haben mich gereizt. Und dort habe ich auch bald meinen Kollegen Martin Lambert getroffen, mit dem ich bis heute neue Konzepte entwickele und viele Projekte umsetze.


Gerade mein Vater hatte zu Anfang keinen Zugang dazu und Bedenken wegen zu großer seelischer Belastung, aber nach und nach haben meine Eltern verstanden, worum es geht.

Hat dich jemand von diesem Schritt jemals abhalten wollen?

Nein. Für meine Eltern war das zwar befremdlich, dass ich Psychiatrie machen wollte. Gerade mein Vater hatte zu Anfang keinen Zugang dazu und Bedenken wegen zu großer seelischer Belastung, aber nach und nach haben meine Eltern verstanden, worum es geht. Sonst ganz im Gegenteil, da war niemand, der dachte, dass dies komisch sei.


Erzähl uns, wie es zum Medizinstudium kam. Wer waren deine Förderer oder Mentoren?

Graphik war etwas, das mich lange Zeit aufgrund der Arbeit meines Vaters interessierte, aber ich wollte was Eigenes machen. Ich habe mich immer auch für Naturwissenschaften interessiert. Lange habe ich deshalb gedacht, dass ich Biologie studieren sollte. Aber die Vorstellung, im Labor Pflänzchen zu bearbeiten, war dann nicht attraktiv genug. Die Idee, dass ich auch Medizin studieren könnte, kam ganz spät. Im Studium haben wir rasch einen Freundinnenkreis von MedizinstudentInnen gebildet, die heute alle ÄrztInnen sind. Das war wahrscheinlich der am stärksten fördernde Kreis. Im Studium war ich eher faul. Ich habe zwar immer nebenbei gejobbt, extrem fleißig war ich aber nicht. Ich hatte den Ruf, dass ich immer ein bisschen zu spät komme und auch gerne mal was anderes gemacht habe, als zu studieren. Ich bin gerne gereist und habe auch gefeiert. Meine Freunde waren teilweise viel fleißiger. Das hat aber immer dafür gesorgt, dass ich mitgezogen wurde. Die haben dann immer gesagt, so, Anne, jetzt hinsetzen, machen! Später gab es Mentoren auf meinem Weg wie Michael Krausz, Monika Bullinger und Dieter Naber (Anmerkung der Redaktion: Ihr ehemaliger Chef am UKE und Förderer), aber auch viele Kolleginnen und Kollegen, mit denen ich den klinischen Alltag erlebt oder gemeinsam über Daten gebrütet habe.


Wie kam es zu dem Wandel der „eher faulen Anne“ zu der ambitionierten Karrierefrau und Forscherin?

Das hat sich im PJ sprungartig gewandelt. Zum ersten Mal habe ich wirklich im Umgang mit Patienten miterlebt, dass es Sinn macht, was ich da lerne. Da fing ich an, mich als Ärztin zu sehen. Prof. Nabers „Machen sie mal, Frau Karow“ hat mich auch angespornt. Im Januar 1999 habe ich angefangen, im Jahr darauf hatte ich bereits meine erste Vortragsreise nach Schweden. Auf Englisch! Der Alptraum. Ich sprach ein typisches Schulenglisch, das erst später mit Australien besser geworden ist.


Anne erzählte uns, dass sie in Melbourne während der Fahrten zu und von der Arbeit in einem Wörterbuch die Vokabeln „des Tages“ raussuchte und lernte. So verbesserte sich ihr Englisch und auch ihr Verständnis der diversen gesprochenen Akzente. Dort, tausende Kilometer von der Heimat entfernt, setzte sie sich mit der psychiatrischen Grundversorgung Australiens auseinander, welche durch das Arbeiten in Teams zur Früherkennung und Zuhausebehandlung (Home Treatment) geprägt ist. Sie sog das Knowhow vom bekannten irischen Psychiater Pat McGorry auf und verließ mit vollen Händen ein Jahr später Melbourne. Diese Erfahrungen flossen in ihre Arbeit in der Früherkennungsambulanz und die integrierte Versorgung (intensivierte und spezialisierte Behandlung von Menschen mit Psychosen oder anderen psychiatrischen Erkrankungen) am UKE ein. So nahm die Karriere dieser Erneuerin ihren Lauf. Auf die Frage, ob sie Geschwister hat und Erfolg in der Familie eine Bedeutung spielt, seufzt Anne kurz und fragt „ja... was ist Erfolg?“ und bestätigt, dass den Eltern Erfolg wichtig ist. Der Bruder ist Staatswissenschaftler, die Mutter war Grundschullehrerin und der Vater hat als Physiker ein Softwarehaus gegründet und sich mit der Digitalisierung von Schriften beschäftigt. Ärzte hat es in der Familie nicht gegeben. Die Mutter ist erst spät wieder zur Arbeit gegangen, da war Anne fast aus dem Haus und erlebte daher ihre Kindheit als „wohlbehütet“ mit einer Mutter, die „voll zu Hause“ war. Hier hakten wir nochmal genauer nach...

War das der Wunsch deiner Mutter, „voll zu Hause“ zu bleiben?

Ja. (nachdenklich) Erstaunlicherweise, ja.

Erstaunlicherweise, weil es für dich schwer vorstellbar wäre?

Sie hat mir immer geraten, alles zu Ende zu bringen, ehe ich Kinder bekommen würde. In ihrem Lebenskonzept ist sie, im Nachhinein, ein bisschen zu früh Mutter geworden. Sie hatte es dann tatsächlich nicht einfach, ihr Studium zu beenden. Ich habe ihren Rat befolgt. Ich würde es meinem Kind jedoch nicht mehr so sagen. Ich würde nicht sagen, mach alles erst fertig.

Ist das eine Entscheidung, die du bereust? Würdest du im Nachhinein sagen, das wäre auch anders machbar gewesen?

Studium und Kind sind auf jeden Fall machbar. Berufstätigkeit und Kind mit Habilitation, das weiß ich tatsächlich nicht. Ich habe meine Habilitation fertig geschrieben, als ich gerade im Mutterschutz war und das war auch gut so. Für mich war Mutterschutz eine tolle Zeit. Ich saß viel auf dem Sofa und konnte prima schreiben! Das hat sich manchmal fast wie Urlaub angefühlt. Aber das war ein Glücksfall, andere haben da weniger Zeit für sich und möglicherweise mehr körperliche Beschwerden.


Mir war völlig klar, dass ich gerne ein Kind oder Kinder bekommen möchte.

Es wird deutlich, dass du sehr aktiv in der Klinik bist, Projekte ins Haus gebracht hast und weiterhin bringst und wissenschaftlich interessiert bist, was in einer Uniklinik sehr wertvoll ist. Wie war das als du gesagt hast, dass du schwanger geworden bist? Hattest du Ängste, das mitzuteilen?

Mir war völlig klar, dass ich gerne ein Kind oder Kinder bekommen möchte. Ich habe mich natürlich gefragt, ob mich das auf irgendeine Weise rauskatapultiert. Ich hatte den Facharzt schon abgearbeitet. Da war also eine gewisse Sicherheit. Wahrscheinlich hätte ich mir mehr Fragen gestellt, wenn ich mitten in der Assistenzzeit gewesen wäre, insbesondere ein zweites Kind zu bekommen. Das erlebe ich auch bei Kollegen. Da finde ich, sind Psychologen gegenüber Ärzten in unserem Fachbereich ein wenig im Vorteil. Psychologen können sich oft entscheiden, wissenschaftlich oder klinisch zu arbeiten. Was die Berufsperspektive angeht, sind Ärzte allerdings eher im Vorteil, das Spektrum erscheint mir breiter und es gibt mehr Angebote. Wir Frauen haben im Arztberuf an Universitäten vor allem mit einer Dreifach-Belastung zu kämpfen. Einerseits die klinische Betreuung von Patienten, die für einen Arzt immer vorausgesetzt wird, mit Diensten, Notfällen, Bereitschaften usw., dann die Lehraufgaben und die Forschungstätigkeit. Das ist schon viel. Das alles zu machen und evtl. Teilzeit zu arbeiten, ist sehr schwierig, unter einen Hut zu bekommen. Nicht unmöglich, aber nicht ganz einfach.


Erinnerst du dich noch an die Reaktion, als du mitgeteilt hast, dass du schwanger bist?

Da ich nicht eine Woche nach meiner Einstellung in die Elternzeit gegangen war, kam es nicht überraschend. Das gehört dann schon auch dazu. Prof. Naber hat selbst Kinder und insofern ist das auch Normalität. Ich erlebe das ja jetzt auch als Vorgesetzte. Natürlich schrei ich nicht „Hurra, toll“, aber ich freue mich trotzdem für jede einzelne werdende Mutter: Das sind dann immer die zwei Herzen in einer Brust. Auf der einen Seite „Ach, Mist“ und auf der anderen „Ach, wie schön“. Nichts ist schlimmer als mit sich hadernde und unzufriedene Mitarbeiter. Das kann für unsere Patienten nicht gut sein.


Die Schwangerschaft und die zwangsläufige Abwesenheit in der Klinik und Forschung könnte ein Nachteil für Frauen sein. Hast du irgendwo den Eindruck gehabt, dass du mehr machen musstest als die männlichen Kollegen in deiner Laufbahn?

Mir ist es nicht aufgefallen, vielleicht habe ich es auch nur nicht bemerkt. Ich finde die Psychiatrie nicht so sehr männerdominiert, das ist ja nochmal anders in der Chirurgie oder Orthopädie. In der Assistenzzeit war das Geschlechterverhältnis 50/50. Es unterschied sich vor allem bei den leitenden Funktionen. Da gibt es eklatante Unterschiede in dem Anteil Männer und Frauen. Es gab nur eine einzige Oberärztin und eine leitende Therapeutin, als ich angefangen habe. Ich habe mir aber von den männlichen Kollegen einiges Interessantes abgeguckt. Ich finde, dass Frauen das zu wenig tun. Es ist immer wieder bemerkenswert, dass Männer ihre Interessen stärker positionieren, die Wichtigkeit ihrer Anliegen durchsetzen und in den Vordergrund rücken. Bei Frauen habe ich manchmal den Eindruck, dass sie erwarten, dass Dinge selbstverständlich laufen und sie eher dazu neigen, ihre Leistung weniger herauszustellen. Das sehe ich bei Männern tendenziell seltener. Die neigen eher dazu, ihre Leistung mehr darzustellen, ich formuliere das mal sehr vorsichtig. Es ist auch in Ordnung, darauf stolz zu sein, und es führt dann auch dazu, dass Ihnen nicht noch Zusätzliches aufgebürdet wird. Bei Frauen habe ich oft erlebt, dass sie auch noch die zehnte Verpflichtung auf sich nehmen. Das sind dann oft eher nicht die öffentlichkeitswirksamen Aufgaben wie Kongressreisen, Vortragstätigkeit oder Artikel zu schreiben, sondern eher die weniger sichtbaren Aufgaben wie Dokumentation oder alltägliche klinische Anforderungen und Patientengespräche, also der „Kümmereraspekt“.

Ich habe schon gehört, dass Menschen, die mich nicht kennen, Angst haben mit mir zusammenzuarbeiten.

Was meinst du, wie das kommt?

Ich kann mir vorstellen, dass das manchmal auch als dominant oder wenig weiblich empfunden wird. Ich habe schon gehört, dass Menschen, die mich nicht kennen, Angst haben mit mir zusammenzuarbeiten. Die erkundigen sich dann, ob es mit mir „auszuhalten“ ist. Die erleben dann, dass es geht und ganz angenehm ist. Ich glaube auch, dass ich ziemlich viel Durchsetzungskraft ausstrahle und das hat wahrscheinlich auch dazu geführt, dass ich mich an bestimmten Punkten durchsetzen konnte.

Gab es auf deinem Weg prägende, exemplarische weibliche Vorbilder?

Ja, eine Psychologin: Monika Bullinger. Sie ist habilitiert, Professorin, hat mehrere Kinder und ist ein ganz familiärer Typ.

Was hat sie zum Vorbild gemacht?

Ich finde sie großartig, sie ist weiblich und erfolgreich.


Und Mutter?

Und Mutter! Diese Kombination aus Vollblutfrau, auch in ihrem Auftreten; herzlich, aber auch sehr schlau, wirklich mit fundamentalen fachlichen Kenntnissen; gleichzeitig nicht nur auf Karriere fokussiert, sondern auch mit anderen Prioritäten im Leben... (kurze Pause) Das versuche ich auch zu leben.

Du hast vorher erwähnt, dass es Mentoren wie Michael Krausz auf deinem Weg gab. Fiel irgendwann ein Satz wie „Weil du eine Frau bist, solltest du …?

Nee, Michael [Krausz] habe ich immer als sehr offenen Förderer empfunden. Ich habe nicht die Probleme mit ihm gehabt wie manche männlichen Kollegen. Männer tun sich leider oft schwerer in diesen Hierarchien, vor allem Nachfolger heranzuziehen. Das erlebte ich schon mehrmals. Männer bauen sehr spannende Strukturen auf, die gleichzeitig auch personengebunden sind. Und nach ihrem Weggang werden wirklich visionäre Strukturen teilweise nicht weitergeführt, weil der Nachfolger diese dann wegbeißen muss. Das passiert auch sehr reflektierten Kollegen [in leitender Funktion]. Was wirklich sehr schade ist. Da geht unnötig Wissen verloren.

Ist das der Vorteil eine Frau zu sein?

Ja, total. Deshalb funktioniert die Zusammenarbeit mit manchen Kollegen. Ich habe einfach einen gewissen Schutz, ich werde nicht so harsch angegangen an manchen Punkten.


Weil du eine Frau bist und eventuell nicht als direkte Konkurrenz bedrohlich wirkst?

Ja, ganz genau. Es ist keine direkte Konkurrenz, weil es da so einen Frau-Mann Bonus gibt und Männer einen dann eher „gewähren“ lassen. Vielleicht auch weil einer Frau dann eben doch weniger zugetraut wird. Beim Mann herrscht die Befürchtung: Der wird sich über mich hinwegsetzen, der vertreibt mich. Die Gefahr droht von einer Frau nicht so auszugehen.


Könnte eine weiterer Aspekt der sein, dass ein Mann sich auch auf emotionaler Ebene mehr einer Frau anvertrauen oder öffnen kann, vor allem wenn man so eng miteinander arbeitet?

Vielleicht.

Ich finde das auch großartig, mit den anderen Oberärztinnen zu arbeiten.

Wie ist das für dich, als Frau in leitender Position mit Frauen zusammenzuarbeiten, bei denen du merkst, dass sie auch durchsetzungsstark sind und Karriereambitionen haben?

In meinem Team wünsche ich mir das. Ich finde das auch großartig, mit den anderen Oberärztinnen zu arbeiten. Es hat mir auch eine Zeit lang gefallen, einzige Oberärztin zu sein. Da ist natürlich auch ein bisschen Narzissmus dabei. Aber es ist schön, dass Alexandra [Bussopulos] und Sarah [Biedermann] jetzt mit dabei sind. Das finde ich klasse.

Du hast da auch den Weg geebnet...

Ja, hier auf jeden Fall. Vor allem es möglich zu machen, dass solche Modelle auch mit Kind gelebt werden können. Ich hatte am Anfang teilweise Schwierigkeiten, mit kleinem Kind von zuhause Hintergrunddienste zu machen. Es gibt ja kein Modell für Oberärztinnen. Als Assistenzärztin mit kleinem Kind wird man aus dem Nachtdienst rausgenommen und macht Tagdienste. Das kann man mit einem Kind und Betreuungszeiten vereinbaren. Aber Bereitschaft ist schwierig, wo man ggf. plötzlich nachts um drei reinfahren und zur Verfügung stehen muss. Ich habe mich damals auch rechtlich beraten lassen und da wurde mir gesagt, dass es hierfür kein offizielles Arbeitsmodell gebe und ich dies privat organisieren müsse. Punkt, fertig. Weil es eben so wenig Oberärztinnen gibt, gibt es auch keine Lobby, die sagt, Moment mal, das muss anders geregelt werden. Es passiert bei uns zum Glück sehr selten, dass der Oberarzt nachts in die Klinik fahren muss.

Was hat sich positiv verändert und wo gibt es noch Nachholbedarf?

Ich habe den Eindruck, dass es selbstverständlicher geworden ist, dass ÄrztInnen nicht mehr erst um halb neun am Abend nach Hause gehen können, was ich nicht als lebensbejahendes Konzept empfinde. Auch die Abschaffung von 36 Stunden Dienstverpflichtung oder auch, dass Väter in Elternzeit gehen, finde ich gut. Wir haben aber kein Konzept, wie derjenige, der z.B. für zwei Monate in die Elternzeit geht, ersetzt werden soll. Im Grunde wird das dann auf dem Rücken der anderen Teammitglieder ausgetragen. Das entspricht keinem integrativen Konzept von Elternzeit. Dann denke ich, das war nicht im Sinne des Erfinders. Die geteilten Arbeitszeiten als Modell könnte man viel weiterentwickeln. Es gibt ja auch Fächer, bei denen noch mehr Elternzeiten entstehen, die haben es nicht einfacher, z.B. in der Kinder- und Jugendpsychiatrie, in der es einen noch größeren Frauenanteil gibt. Die haben mit Elternzeiten noch mehr zu tun. Da ist noch viel zu tun.


Du warst schon Privatdozentin (PD), Fachärztin und hast dann noch auf Station gearbeitet, bevor du Oberärztin wurdest?

Ja, ein Jahr. Am Anfang war ich ein bisschen beleidigt, gebe ich zu. Ich dachte, was muss ich das denn jetzt wieder machen. Ich hatte ja schon auf vielen Stationen gearbeitet. Die Leitung hatte es so beschlossen. Später war ich aber heilfroh. Jeder, der kleine Kinder hat, weiß, dass die ersten zwei Winter der Horror sind. Ich war doch öfter „kindkrank“ und war entlastet, weil ich Teil eines Stationsteams war und meine Patienten auch in meiner Abwesenheit versorgt waren. Als dann 2013 der Adoleszenzbereich eröffnet wurde, bin ich wieder voll eingestiegen.

Es war toll, eine super spannende Entwicklung, junge Patienten, ein richtiger Sack Flöhe und ein engagiertes Team, alles neu!

Wie war der Moment als du erfahren hast, dass du jetzt Oberärztin wirst?

Was den Adoleszenzbereich angeht, hat mich Prof. Naber ausdrücklich gefragt, ob ich ihn entwickeln und übernehmen möchte. Das fand ich super. Ich dachte, wenn du da nicht zugreifst, das ist die Gelegenheit. Es war auch ganz klar, dass das nicht unter einer vollen Stelle gehen würde. Es war nicht einfach, alles unter einen Hut zu kriegen. Ich hatte glücklicherweise viel Unterstützung durch meine Familie. Es war toll, eine super spannende Entwicklung, junge Patienten, ein richtiger Sack Flöhe und ein engagiertes Team, alles neu!

Prof. Naber hat dich offensichtlich begleitet und geprägt. Gibt es ein bestimmtes Bild von Behandlung, Erkrankung, Störungsverständnis, was dich beeinflusst hat?

Ich habe viele Gedanken aus der Sozialpsychiatrie übernommen. Damals gab es eine starke Auseinandersetzung zwischen Sozialpsychiatrie und biologischer Psychiatrie, die beide aus meiner Sicht heute enger zusammengewachsen sind. Glücklicherweise. Wobei ich extrem froh bin, dass ich in einem Kreis aufgewachsen bin mit Personen wie Michael Krausz, Thomas Bock, Evelyn Gottwalz-Itten und Volkmar Aderhold. Sie alle legen sehr viel Wert darauf, dass es in unserer Arbeit nicht darum geht, Gehirne zu behandeln, sondern dass Behandlungsphilosophien, Beziehungsarbeit, Zugewandtheit und der Blick auf den ganzen Menschen im Fokus stehen sollten. Wir stellen uns auf die Menschen ein, die Patienten müssen sich nicht auf uns einstellen und wir holen jeden da ab wo er ist. Ich konnte mich von Anfang an sehr mit diesen Gedanken identifizieren. Auf der anderen Seite, wobei im Nachhinein betrachtet es keine wirklich andere Seite ist, gab es die biologische Grundlagenforschung. Die ist zwar sehr spannend, aber da hätte ich mich nicht so zu Hause gefühlt, wenn ich primär im Labor vor der Maus gestanden hätte...

Erst als wir das leise Klopfen an der Bürotür wahrnehmen, bemerken wir, wie schnell die Zeit verflogen ist. Mit dem bevorstehenden Öffnen der Tür reißt uns der Klinikalltag schließlich aus der Gesprächsblase. Das Büro mit dem roten Gemälde lassen wir hinter uns, das Bild des Werdegangs einer erfolgreichen Professorin mit Hürden und Errungenschaften im Gepäck.


 

Zahlen und Fakten zum Geschlechterverhältnis im Arztberuf


Wie ist denn das eigentlich mit dem Geschlechterverhältnis im Arztberuf? Ist es tatsächlich weiterhin eine Ausnahme, dass Frauen wie Prof. Dr. Anne Karow Leitungspositionen im Arztberuf innehaben? Wir haben uns auf die Suche gemacht und sind auf eine aktuelle Erhebung der Frauen- und Gleichstellungsbeauftragten der Charité Berlin gestoßen. Einige ausgewählte Zahlen möchten wir Ihnen hier präsentieren. Deutlich wird, wie auch Anne Karow im Gespräch erwähnt hat, dass zu Beginn der Medizinerkarriere ein ausgewogenes Geschlechterverhältnis herrscht. Mit jeder Sprosse auf der Karriereleiter geraten die Frauen jedoch zunehmend ins Hintertreffen.



Über den Daumen gerechnet werden zwei Drittel aller Medizinstudierenden durch Frauen repräsentiert. Ebenfalls fast zwei Drittel der Studentinnen und Assistenzärztinnen promovieren im Laufe ihrer Aus- oder Weiterbildung.








In der Welt der sich in Weiterbildung befindenden AssistenzärztInnen und FachärztInnen findet sich ein ausgewogenes Geschlechterverhältnis.












Klettert man nun etwas weiter auf der Karriereleiter, so muss man feststellen, dass nur ein Viertel des oberärztlichen Personals durch Frauen vertreten ist.








In der Beletage der Forschung sieht es noch düsterer aus: Auf eine Professorin wie Anne Karow trifft man auf den Fluren der Forschungsinstitute nur mit einer Wahrscheinlichkeit von knapp über 20% - ungefähr ein Fünftel der Professuren sind an Frauen vergeben.








Nur jede vierte medizinische Klinik wird von einer Chefärztin geleitet.











Quellen

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