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Zur Qualität der Empörung in Sachen Psychiatrie

Zurück aus der Sommerpause veröffentlichen wir an diesem ersten Herbsttag eine trialogische Presseempfehlung von Irre menschlich Hamburg e.V. - Hierbei nehmen Betroffene, Angehörige und engagierte Therapeuten Stellung zu den aktuellen kurzatmigen Presse-Reaktionen in Hinsicht auf psychische Erkrankungen sowie Stigmatisierung und fordern eine weitergehende Diskussion, eine umfassende Berichterstattung, Aufklärung und eine andere eher Art politischer Empörung....


© Irre Menschlich e.V.

Ein Flugzeug wird gegen den Berg gesteuert. Geschieht das wegen einer psychischen Erkrankung oder trotz Depression? Auch gesunde Menschen töten - aus unterschiedlichen Motiven. Ein afrikanischer Patient stirbt nach einem Wachdienst-Einsatz. „Rassistischer Mord“ oder „alles richtig gemacht“? Oder vielleicht doch eine tragische Wechselwirkung von unglücklichen Sicherungsmaßnahmen und Herzerkrankung? Ein anderer Patient entkommt aus der Psychiatrie. Es gibt einen Verdacht wegen seiner sexuellen Neigungen, aber kein Delikt und keine Verurteilung. Er wird schnell gefunden und in Sicherheit gebracht (forensische Hilfe war längst beantragt). Nichts ist passiert. Niemand kam zu Schaden. Doch die Aufregung ist groß. Für manche Medien sind psychisch erkrankte Menschen keine Zuwendung wert, ist die Psychiatrie selbst nur Anlass für Empörung: Mehr Bewachung oder weniger? Zu schneller Zugriff oder zu langsam? Egal - Hauptsache Empörung. Die steigert die Auflage.


Am Ende bleibt das Bild von der schrecklichen Psychiatrie, von den „gefährlichen Irren“. Solange die Medien nur vermeintliche Skandale hochkochen, können alle denken: Das trifft mich nicht. Und wenn die seelische Not dann doch näher kommt, die eigene Familie betrifft, ist das Erschrecken groß. So ist der Psychiatrie nicht zu helfen. So ist die Angst vor unserer Verletzlichkeit nicht zu mindern. Die meisten Psychiatrischen Kliniken sind besser als vor 100 Jahren, vielleicht sogar besser als ihr Ruf. Wir möchten, dass psychisch Kranke angemessene Hilfe finden, dafür müssen sie sich aber auch trauen, sie zu suchen.

Kliniken für Psychiatrie und Psychotherapie sollen helfen und schützen. Sie sind für sehr verschiedene Menschen zuständig – für den depressiven Lehrer, die demente Oma, den traumatisierten Flüchtling, die suizidale Ehefrau, den gemobbten Kollegen, den verzweifelten Obdachlosen, den bipolaren Banker.... Für Jugendliche, denen das Erwachsenwerden nicht gelingen will. Für Erwachsene, die beruflich nicht mehr mithalten können. Für alte Menschen, die aus Armut und Einsamkeit keinen Ausweg mehr finden. Nicht zuletzt für die, die an der Kälte, Härte, Geschwindigkeit unserer Welt verzweifeln, straucheln, scheitern. Wer interessiert sich für sie? Symptome und Diagnosen können verschieden sein; die Probleme und Konflikte dahinter sind menschlich. Sollen alle in einem „Hochsicherheitstrakt“ landen?

Bei ihrem schwierigen Auftrag braucht die Psychiatrie soziale Einbindung und gesellschaftliche Kontrolle. Sie kann nur so gut sein wie die Wirklichkeit um sie herum, wie die Lebensbedingungen der Menschen, die Seelen-Hilfe brauchen: Wer empört sich, wenn psychisch erkrankte Menschen verarmen, den sozialen Anschluss verlieren, beruflich aussortiert werden, sich wegen der Mietpreise am Stadtrand oder in der Obdachlosigkeit wieder finden? Wer kämpft für genug Personal, gute Ausbildung, bessere Strukturen? Für offenes Verständnis, mobile Hilfen, therapeutische Kontinuität?


Wussten Sie, dass psychische Erkrankungen dort am häufigsten sind, wo Einkommen und Arbeit besonders ungleich verteilt sind? Wo Angst und Einsamkeit besonders groß, Sensibilität und Toleranz besonders klein sind. Ist das nicht Aufmerksamkeit wert? Vielleicht sogar Empörung? Oder Erkenntnis? Oder besser noch einen politischen Auftrag: für solidarische Hilfen ohne Benachteiligung der Schwer-Kranken. Für eine soziale Gerechtigkeit, die allen zugutekommt!


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